Leute, die Fackeln tragen, Glocken schwingen und sinnfreie Plakate schwenken, während sich die Toten in Krankenhäusern und Altersheimen stapeln: Ein Paradox, das selbst das Pandemie-Ende nicht auflösen konnte. Was ist das für eine geforderte Freiheit, die auf Kosten des Lebens anderer beruht? Bei solch Grossen Fragen müssen fundierte Bücher her.
“Gekränkte Freiheit” von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Suhrkamp, 2022) versprach Antworten zu liefern und rangierte gleich nach Publikation ziemlich weit oben auf meiner Leseliste. Das Buch, geschrieben von einer Literatursoziologin und einem Soziologen, liefert zwar keine Anleitung, um die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte aufzulösen. Vielmehr bietet es Analysen betroffener Gesellschaftsbereiche, aus denen Fackeln, Glocken und Plakate erwachsen konnten, und entwickelt die Theorie des libertären Autoritarismus. Es liefert Antworten auf das Warum - und den Freiheitsbegriff.
Statt einer Rezension hier ein kurzes Zitat aus dem Schlusswort. Dort fassen die Autor:innen zusammen, Freiheit erfolge nur durch und mit anderen, nicht in Abspaltung (353f.):
Soll Freiheit mehr sein als bloss negative Freiheit, müssen wir sie als etwas zutiefst Soziales begreifen. Freiheit beruht auf einem Geflecht subjektiver Rechte und institutioneller Voraussetzungen. Deshalb wird gerade ökonomische, politische und soziale Planung in der ausgehenden Spätmoderne zu einer Garantin individueller Freiheit. […] Freiheit kann nur dann wirklich realisiert werden, wenn dies in Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeiten geschiht. […] Als Individuen können wir noch so unabhängig, noch so eigenverantwortlich und souverän sein, als Organismen sind wir permanent mit anderen Menschen verbunden, als Subjektive mit der Gesellschaft. Individuen sind wir immer nur in Ko-Präsenz mit anderen Individuen, mit der Gesellschaft und der Natur. Dies spricht keineswegs gegen Selbstverwirklichung oder Singularisierung. Sie müssen sich aber im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen entfalten und nicht auf die Sezession aus dem Gemeinswesen zielen. […] Die Freiheit der Zukunft braucht Solidarität.
Meine letzte universitäre Lektüre ist ein paar Jährchen her, und so brauchte ich eine Weile, um wieder in den Groove der Forschungsliteratur zu kommen, aber: es ist die Hürden wert. Deshalb eine starke Lese-Empfehlung, trotz des universitären Hintergrundes. Wer keine Erfahrung mit solchen Texten hat, dem sei ein Gang in die Bibliothek empfohlen, um zumindest das Buch quer zu lesen (und die schwierigen Abschnitte zur Kritischen Theorie zu überfliegen).
Quellenangaben und weitere Lektüre
Amlinger, Carolin und Nachtwey, Oliver: “Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus”, Suhrkamp, 2023. ISBN 9783518473634.
Etwas älter, ebenso mit Freiheit als Thema:
Garton Ash, Timothy: “Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt.” Hanser, 2016. ISBN 9783446244948. Übers. von “Free Speech: Ten Principles for a Connected World”, Yale University Press, 2016. ISBN 9780300161168.
“Durch den Monat mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (4 Teile)”, November 2022.
Eine Rezension findet sich z.B. im “Spektrum der Wissenschaft” von Anton Benz, 1.9.2023.
Bildquelle: Nightcafé/Dreamshaper XL Lightning
Last modified on 2024-12-21
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